Über das Projekt

Heutzutage legen Handydaten von sehr vielen Menschen detaillierte Bewegungsprofile an. Früher war das Nachvollziehen derartiger Bewegungsprofile nur in Ausnahmefällen möglich. Genau ein solcher Ausnahmefall wird im vorliegenden Projekt für die Wissenschaft erschlossen und für die Öffentlichkeit visuell erfahrbar gemacht. Arthur Schnitzler (1862–1931), einer der international prominentesten Wiener Autor_innen, betrieb self tracking ›avant la lettre‹. Die Forschungsfragen des vorliegenden Projekts lauten also: In welchem Wiener Stadtraum war Arthur Schnitzler unterwegs? Welchen geografischen Raum umspannt ein bürgerlicher Wiener um 1900? Lassen sich tatsächliche Wege und seine kulturellen Interaktionen über 90 Jahre nach seinem Tod nachzeichnen?

Durch das Projekt wird erstens eine unschätzbare Ressource für die Forschung zu Arthur Schnitzler geschaffen, indem über 43.000 Datenpunkte für die 52 Jahre seines Erwachsenenlebens ermittelt werden.

Zweitens entsteht ein bedeutender Datensatz für ein beispielhaftes Leben im Wien des Fin de Siècle bis zur Zwischenkriegszeit. Gewichtige perspektivische Einschränkungen liegen vor, insofern es sich um einen erfolgreichen, weitgehend wohlhabenden Mann handelt, der in gutbürgerlichen Kreisen verkehrte. Einerseits glauben wir, dass der Datensatz trotzdem nützlich ist und Anschluss für prekäre oder marginalisierte Positionen bietet. Andererseits dürfte es nur einem gutsituierten Mann möglich gewesen sein, eine derartige Vernetzung im Kulturbetrieb zu erlangen. Schnitzler wird damit über seine spezifische Bedeutung als einer der erfolgreichsten und einflussreichsten österreichischen Autoren hinaus zum pars pro toto für einen größeren Kontext. Daraus ergeben sich zwei Projektaufgaben: Die Anschlussfähigkeit für zukünftige Forschungen muss gewährleistet werden. Durch Visualisierungs- und Filtermöglichkeiten sowie Kartendarstellungen soll eine möglichst zugängliche Repräsentation der Daten geschaffen werden.

Schnitzler ist bekannt als Diarist: Er führte ein Tagebuch, das Einträge zu über 16.000 Tagen seines Lebens umfasst, die vor allem in Wien und im Wiener Kulturbetrieb zu verorten sind.1 Darüber hinaus finden sich in seinem Nachlass in der Cambridge University Library mehrere Aufzeichnungen in Listenform. Signifikant ist, dass diese das Tagebuch ergänzen und nicht aus diesem destilliert werden können. Sie basieren gemeinsam mit dem Tagebuch auf weitgehend verlorenen handschriftlichen Notizen, die von Schnitzlers Sekretärin abgetippt wurden. Chronologisch umfassen die Listen den Zeitraum vom 17. Lebensjahr (1879) bis circa drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1931:

  • Liste der gelesenen Bücher
  • Traumtagebuch
  • Verzeichnis der Reisen
  • Teilnahmen an Konzerten, Theateraufführungen und Vorlesungen
  • Teilnahme an Aufführungen eigener Werke
  • Öffentliche Vorlesungen
  • Vorlesungen im privaten Kreis
  • Gesangsauftritte der Gattin Olga Schnitzler

Die Forschung hat sich diesen Zusammenstellungen im Nachlass bislang nur teilweise in Einzeleditionen genähert. Das Traumtagebuch erschien 2012.2 Im Folgejahr wurde die Lektüreliste ediert. Inzwischen liegt sie auch digital vor.3 Das Verzeichnis der Reisen wurde von uns 2022 mit einer Praktikantin als Probestück aufgearbeitet.4 Zusätzlich publizierten Michael Rohrwasser und Stephan Kurz 2012 eine Rekonstruktion der Kinobesuche Schnitzlers und seiner Lebensgefährtin Clara Katharina Pollaczek.5

Gemeinsam ist diesen Editionen, dass sie die Vorlagen Schnitzlers auf ihren Informationsgehalt hin auswerten und gegebenenfalls Lücken mit Hilfe weiterer Quellen schließen. Georg Vogeler nennt das eine »assertive edition«, da hier, im Unterschied zu philologischen Editionen, historische Vorlagen im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen ›Fakten‹ ediert werden.6 Das vorliegende Projekt besteht im Kern aus einer Deep Map7, einem Bewegungshistogramm Schnitzlers in Wien und Europa.

Die Projektarbeit wurde hauptsächlich von Martin Anton Müller und Laura Untner erledigt. Die Durcharbeitung der Theaterliste aus dem Nachlass nahmen Katharina Sophie Kühnel und Martin Anton Müller vor.

Ein herzliches Dankeschön an Peter Andorfer, Peter Michael Braunwarth, Hannah Gehmacher, Friederike Griessler, Carl Friedrich Haak, Julia Ilgner, Eva Kernbauer, Stephan Kurz, Isabel Langkabel, Sandra Mayer und Daniel Schopper – eure Unterstützung war von unschätzbarem Wert!

Für wertvolle Hinweise zu spezifischen Aufenthaltsorten, vergessenen Flurnamen und ehemaligen Lokalen, die nur Ortskundige identifizieren konnten, danken wir besonders Laura Bahtovic (Berndorf), Isella Berger (Seis am Schlern), Beppo Beyerl (Wien), Roswitha Duensing (Tutzing), Friederike Griessler (Reichenau an der Rax), Tatjana Hagen (St. Moritz), Harald Kofler (Gossensass), Johannes Lang (Bad Reichenhall), Sonja Pichler (Gossensass) und Monika Reiter (Lunz am See).

Unser besonderer Dank gilt zudem der Kulturförderung der Stadt Wien, die dieses Projekt möglich gemacht hat.

Wien, Frühling 2025

1.
Arthur Schnitzler: Tagebuch 1879–1931. Hrsg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen (Obmann: Werner Welzig). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 1980–2000. Digital: https://schnitzler-tagebuch.acdh.oeaw.ac.at/ (Abruf: 10.1.2025).
2.
Arthur Schnitzler: Träume. Das Traumtagebuch 1875–1931. Hrsg. von Peter Michael Braunwarth und Leo A. Lensing. Wallstein, Göttingen, 2012.
3.
Achim Aurnhammer (Hrsg.): Arthur Schnitzlers Lektüren: Leseliste und virtuelle Bibliothek. Würzburg, Ergon, 2013. Digital: https://schnitzler-lektueren.acdh.oeaw.ac.at/ (Abruf: 10.1.2025).
4.
Peter Andorfer, Martin Anton Müller, Laura Puntigam und Laura Untner (Hrsg.): Aufenthaltsorte von Arthur Schnitzler (1879–1931). 2022. https://schnitzler-orte.acdh.oeaw.ac.at/ (Abruf: 10.1.2025).
5.
Michael Rohrwasser und Stephan Kurz, unter Mitarbeit von Daniel Schopper (Hrsg.): A. ist manchmal wie ein kleines Kind. Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino. Böhlau, Wien, 2012. (Manu Scripta 2)
6.
Georg Vogeler: The »assertive edition«. On the consequences of digital methods in scholarly editing for historians. In: International Journal of Digital Humanities, 2019, H. 1, S. 309–322, https://doi.org/10.1007/s42803-019-00025-5.
7.
Vgl. David J. Bodenhamer, John Corrigan und Trevor M. Harris (Hrsg.): Deep Maps and Spatial Narratives. Indiana University Press, Bloomington/Indianapolis, 2015.